2019
Väter und Söhne
«Wer weiss schon, was die richtige Ordnung der Dinge ist.» Mit diesem Zitat von Nikolai Kirsanov am Ende des Stückes «Väter und Söhne» von Brian Friel ging mit unserer letzten Theatervorstellung ein Prozess zu Ende, der vor eineinhalb Jahren mit den Fragen begonnen hat: Was ist eigentlich eine «normale» Lebensweise? Normal für wen? Was ist, wenn ich anders bin? Wie gestaltet sich unser Zusammenleben, unser Miteinander, wenn nicht alle dieselben Vorstellungen vom Leben haben? Die Suche nach einem befriedigenden Leben, was ist das heute? Ist das für alle in gleichem Masse möglich? Schaffen Politik und Wirtschaft den Boden dafür?
Wir durften auf dieser Reise unvergessliche Momente erleben. Dafür bedanken wir uns bei allen Beteiligten von ganzem Herzen.
Aber Theater entsteht erst wirklich, wenn Menschen zuschauen. Ein ganz grosser Dank geht daher an unsere zahlreichen Zuschauer, die mit eindrücklichem Interesse und grossem Einfühlungsvermögen dem Geschehen auf der Bühne gefolgt sind. Zuschauer von unterschiedlichster Couleur, von ganz jung bis ganz alt und alles dazwischen.
Einmal mehr hat sich unser Leitmotiv bestätigt.
«Theater braucht ein starkes Anliegen, einen Grundgedanken, der über das einzelne Schicksal hinausgeht. Ohne politische Haltung zum Text, ohne eine tiefe Inspiration, ohne ein starkes Need, gibt es keinen Anlass, auf die Bühne zu gehen. Es ist dies die Pflicht des Künstlers, dieses Anliegen zu suchen.» (Nora Sonaini)
Setzt sich ein Ensemble, das immer auch ein Spiegel der Gesellschaft ist, mit diesen Themen auseinander, trifft es mitten ins Herz der Zuschauenden.
Das durften wir zutiefst erleben. Vielen Dank.
Bernadette Wintsch-Heinen
Mani Wintsch
Künstlerische Leitung Bühne Mörel
ANLIEGEN
«Theater: braucht ein starkes Anliegen, einen Grundgedanken der über das einzelne Schicksal hinausgeht. Ohne politische Haltung zum Text, ohne eine tiefe Inspiration, ohne ein starkes Need, gibt es keinen Anlass, auf die Bühne zu gehen. Es ist dies die Pflicht des Künstlers, dieses Anliegen zu suchen.» (Nora Somaini)
Beschreibung
Dieses Leitmotiv hat uns bei der Suche eines neuen Stücks begleitet. In einem partizipativen Schaffensprozess mit Hilfe der „Open Space Technology“ von Harrison Owen haben alle Beteiligten des Ensembles Themen herausgearbeitet, die ihnen relevant erschienen.
Ein Thema überstrahlte alles: Was ist eigentlich „normal?“ „Normal“ für wen? Was ist wenn ich anders bin? Wie gestaltet sich unser Zusammenleben, wenn nicht alle „normal“ sind? Die Suche nach einem befriedigenden Leben, was ist das heute? Ist das für alle im gleichen Masse möglich? Schaffen Politik und Wirtschaft den Boden dafür?
Zudem war der Wunsch vorhanden, Ernsthaftigkeit und Tiefe eines Themas mit Leichtigkeit, Emotion und Musik umzusetzen.
Nach der Lektüre mehrerer Stücke haben wir uns in einem Auswahlverfahren für „Väter und Söhne“ von Brian Friel entschieden. Wo liegt der Grat zwischen Idealismus und Pragmatismus, zwischen innerer Revolte und äusserer Anpassung, zwischen Bedingungslosigkeit und Kompromiss? Das sind Themen, die uns im Stück begegnen.
Väter und Söhne“ beschäftigt sich mit dem ewig aktuellen Konflikt zwischen Jung und Alt. Es erzählt vom Verändern und Bewahren. Wonach streben? Und was bleibt vom eigenen Wirken in der Welt? Und was für eine Welt hinterlassen die „Alten“ den „Jungen“?
Fragen, die in der Stadt wie auf dem Lande Menschen beschäftigen und zurzeit gerade wieder auf die Strassen treiben.
Der Anteil des Theaters an Gesellschaftlichen Prozessen
Ein Gesprach mit der Bühne Mörel
Rote Anneliese Oktober 2019
VÄTER UND SÖHNE
VON BRIAN FRIEL
NACH IWAN TURGENJEW
Bearbeitungen von Romanen, Geschichtsereignissen, Biografien haben heute einen festen Platz auf Bühnen im In- und Ausland. Bei dem so beliebten Grenzverkehr zwischen der erzählenden und der darstellenden Kunst gehen jedoch häufig die jeweils eigenen Qualitäten verloren – und zwar auf beiden Seiten. Nur in glücklichen Fällen gelingt die Liaison zwischen erzählender und dramatischer Kunst. «Väter und Söhne» dramatisiert von dem nordirischen Schriftsteller Brian Friel, weiterentwickelt von der Regisseurin Daniela Löffner und dem Dramaturgen David Heiligers am Deutschen Theater Berlin ist ein solcher Glücksfall.
Beschreibung
Das hat einerseits damit zu tun, dass der grosse Erzähler Turgenjew wunderbare dramatische Elemente beschreibt, die geradezu geschaffen sind für die Bühne. Der Roman ist reich an komplexen Figuren und klugen Dialogen, an existenziellen Konflikten und philosophischen Auseinandersetzungen, an erotischen Verwicklungen und gesellschaftlicher Brisanz.
Andrerseits ist Brian Friel, der den Roman als erster dramatisiert hat, ein Theaterautor, der sein Handwerk versteht. Brian Friel wurde 1929 in Nordirland geboren. Er studierte am katholischen St. Patrick`s College in Maynooth, an dem er 1948 seinen B.A. erwarb. Er entschloss sich jedoch gegen den Beruf des Priesters und liess sich zum Lehrer ausbilden. Kurzgeschichten und Hörspiele folgten, bis er 1960 die Tätigkeit als Lehrer aufgab und sich endgültig dem Schreiben zuwandte. Er schrieb unzählige Theaterstücke. Der Durchbruch als Dramatiker gelang ihm mit dem Stück «The Enemy Within» am Abbey Theatre in Dublin, der internationale Durchbruch mit «Philadelphia, ich bin da» (1964) und «Dancing at Lughnase», welches 1998 unter dem Titel «Tanz in die Freiheit» mit Meryl Streep verfilmt wurde. Am 2. Oktober 2015 stirbt Brian Friel. In seinen Theaterstücken thematisiert Friel immer wieder die Diskrepanz von Imagination und Realität, Traum und Wirklichkeit. Dabei interessieren ihn vor allem die Verstrickungen und Komplikationen, die durch die Unfähigkeit der Menschen entstehen, ein ausgeglichenes und angemessenes Realitätsverständnis zu entwickeln. Da liegt es nicht fern, dass er sich Figuren und Themen von Anton Tschechow und Iwan Turgenjew widmet und sie mit grossem Können und Interesse bearbeitet.
Und nicht zuletzt macht die unangestrengt heutige, äusserst lebenskluge Sichtweise der Regisseurin Daniela Löffner und des Dramaturgen David Heiligers die Dramatisierung von «Väter und Söhne» zu einem Theaterstück, das man schlichtweg als «einfach genial» bezeichnen könnte. «Einfach genial» so die Worte von Anton Tschechow über Turgenjews Roman «Väter und Söhne». Die Frauenfiguren spielen in der neuen Fassung eine viel entscheidendere Rolle. Sie sind mit subtiler Menschenkenntnis gezeichnet, übernehmen, manchmal leise, manchmal lautstark die Führung im Chaos der Gefühle. Die einzelnen Szenen sind gekennzeichnet von einer erstaunlichen Direktheit und Aktualität.
ZUM ROMAN
VON IWAN TURGENJEW
“We appes nitzt, chas bliibe. Wes nix nitzt, ewäg dermit“ Arkadji, 1. Szene „Väter und Söhne“
„Wozu festhalten an Idealen, an Werten? Ist doch alles falsche Romantik – also weg damit. Sie ziehen die gesamte gesellschaftliche Ordnung in Zweifel, sämtliche traditionellen Werte und Konventionen, die gesamte Kunst und Kultur, die Poesie und, ja, auch die Liebe. Von der bleibt nur der Sex.“ Die Freunde Basarow und Arkadi sind Teil einer Jugendbewegung, die Russland Mitte des 19. Jahrhunderts vom Kopf auf die Füsse stellen will. Basarow, Medizinstudent aus Petersburg ist Nihilist und als solcher Teil dieser radikal-liberalen Jugendbewegung. Als er seinen Freund Arkadi auf dessen Heimreise zum väterlichen Gut begleitet, verliebt er sich in die junge Witwe Anna- was ihn existenziell erschüttert. Sollten die alten Wahrheiten der Väter etwa noch gelten? Dies herauszufinden, offenbart sich Basarow nur ein einziger vernünftiger Weg: erst Konfrontation, dann Kollision.
Beschreibung
In Russland löste der Roman „Väter und Söhne“ beim Erscheinen Mitte des 19. Jahrhunderts ein regelrechtes Erdbeben aus. Die Leibeigenschaft war gerade abgeschafft worden, das ganze Land befand sich im Umbruch. Turgenjew traf damals den Nerv der Zeit, weil er von den Sehnsüchten und Ängsten der Menschen in Zeiten des Übergangs erzählte. Kritik kam sowohl von Seiten der aristokratischen Väter, den Verfechtern der patriarchalischen russischen Ordnung mit Leibeigenschaft und Gutsherrenwillkür, als auch von Seiten der Söhne, der neuen Generation demokratischer Rasnotschinzen, junger Intellektueller nichtaristokratischer Herkunft, die für die Abschaffung der Leibeigenschaft und eine demokratische Erneuerung Russlands nach westlichem Vorbild eintraten. Die einen wie die andern fanden die Vertreter der eigenen Partei zu negativ, die der Gegenseite zu positiv. Doch Turgenjew ist jede Art von Ideentransport, von ideologischer Parteilichkeit fremd. Wie bei Tschechow gilt sein vorurteilsloses Interesse den Menschen, ihren Sehnsüchten, Selbsttäuschungen und Widersprüchen, den Brüchen und den haarfeinen Rissen in ihrer Existenz.
Turgenjews Sehnsucht nach gesellschaftlichen Reformen, seiner Sehnsucht nach privatem Glück, der Sehnsucht nach dem immer wieder neu zu erfindenem, literarischen Schaffen zieht sich durch sein ganzes Werk.
Privates Glück erlangen oder sich für ein Glück der Allgemeinheit einsetzen? Dieser Konflikt ist tief in Turgenjews Leben verankert. Er hat nie geheiratet, seit seiner Jugend liebte er die Sängerin Pauline Viardot, reiste ihr nach und lebte zeitweise mit ihr und ihrem Mann zusammen. Sein „unstandesgemässes“ Kind, seine Tochter Pauline liess er im Hause der Viardots aufwachsen.
Ebenso empfand er tiefe Abscheu gegenüber dem damals politischen System der Leibeigenschaft.
„Unser Land (ich meine nicht das Vaterland schlechthin, sondern den sittlichen und geistigen Besitz eines jeden) war gross und reich, aber es herrschte keine Ordnung in ihm. Ich kann von mir sagen, dass ich persönlich sehr wohl alle Nachteile einer Trennung von der Heimat erkannte, eines solchen gewaltsamen Durchschneidens aller Fäden und Bande, die mich mit jener Lebensweise verknüpfen, in der ich aufgewachsen war.... Aber das war nicht zu ändern – die Sphäre, der ich angehörte- die Sphäre des Grossgrundbesitzers, der Leibeigenschaft, war nicht geeignet, mich zurückzuhalten. Im Gegenteil: Beinahe alles, was ich um mich herum sah, rief in mir ein Gefühl der Verwirrung, des Unwillens und letztlich der Abscheu hervor. Ich durfte nicht lange zögern. Entweder musste ich mich fügen und demütig in dem gleichen Geleise gehen wie die andern, oder mich mit einem Mal abwenden, alle und alles von mir stossen, was meinem Herzen lieb und teuer war. Ich habe es getan....Ich konnte nicht neben etwas und mit etwas leben, was ich hasste. Ich musste mich unbedingt von meinem Feind entfernen, um ihn dann aus der Ferne umso heftiger anzugreifen. Dieser Feind war die Leibeigenschaft.“
„Väter und Söhne“ wird nicht nur zu einem grossartigen Roman über den ewig wiederkehrenden Konflikt der Generationen, sondern legt ebenso drastisch die Frage über alte und neuere Vorstellungen von Lebensentwürfen offen.
Mitwirkende
Janusch Ittig | Arkadij Nikolajitsch Kirsanow; Student |
Benjamin Zeiter | Jewgenij Wasiljew Bazarow; Student |
Claudio Albrecht | Nikolaj Petrowitsch Kirsanow; Arkadijs Vater, Gutsbesitzer |
Sandro Giglio | Pawel Petrowitsch Kirsanow; Arkadijs Onkel, pensionierter Offizier |
Elmar Heinen | Wasilij Iwanowitsch Bazarow; Jewgenijs Vater, pensionierter Militärarzt |
Petra Schoepfer | Arina Wlasjewna Bazarow; Jewgenijs Mutter |
Samira Locher | Fenitschka Fedosja Nikolajewna; Nikolajs Geliebte |
Dunja Bumann | Anna Sergejewna Odinzowa; verwitwete Gutsbesitzerin |
Danja Zehnder | Katerina Sergejewna; Annas Schwester |
Marianne Heinen | Fürstin Olga; Annas Tante |
Justine Jost | Dunjascha; Dienstmädchen bei den Kirsanows |
Sebastian Kuonen | Prokofjitsch; Kammerdiener bei den Kirsanows |
Anouk Ittig | Anfissuschka; Dienerin bei den Kirsanows |
Sebastian Kuonen | Fedka; Aushilfsdiener bei den Bazarows |
Mani Wintsch | Regie |
Bernadette Wintsch-Heinen | Regiemitarbeit |
Sarah Taroni | Bühne |
Isabel Schumacher | Kostüme |
Bernadette Wintsch-Heinen | Dramaturgie |
Beat Heinen | Übertragung in den Walliserdialekt |
Antonia Heinzen | Musikalische Einstudierung |
Claudia Wyer | Requisite |
Valentin Stucky | Licht |
Ellen Ruppen | Souffleuse |
IWAN TURGENJEW
Ist von Klassikern der russischen Literatur die Rede, fallen stets die Namen Tolstoi, Dostojewski und Tschechow, dabei gehört Turgenjew zum Besten, was die russische Literatur hervorgebracht hat.
«Mein Leben ist ein sehr einfaches gewesen. Ich bin am 9. November 1818 in Orel (in Russland) geboren.»
Turgenjew stammte aus einer der reichsten Adelsfamilien Russlands. Dem Gut der Familie war er, seiner Mutter wegen, die unausgeglichen und tyrannisch war, früh entflohen,. Sie herrschte über Tausende von Leibeigenen mit roher Gewalt – ein sadistisches Regime, das sich mit Selbstverständlichkeit auch auf die Erziehung der Kinder erstreckte. Es habe, erinnerte sich Turgenjew, keinen Tag in seiner Kindheit gegeben, an dem er nicht geprügelt worden sei.
Beschreibung
«Ich habe ein Jahr lang in der Moskauer Universität, dann drei Jahre in der Petersburger studiert – machte 1838 meine erste Reise ins Ausland und studierte bis 1840 in Berlin – Philosophie, Philologie und Geschichte – in Berlin hab ich ein ganzes Jahr in demselben Hause und beinah in demselben Zimmer mit Bakunin (1814 – 1876, russischer Revolutionär und Anarchist) zugebracht. Im Jahre 1843 schrieb ich meine ersten Verse und trat für eine sehr kurze Zeit ins Ministerium des Innern ein. Meine Verse waren schlecht – und mein Dienst- ebenso. Ich schrieb hin und her, Reflexionspoesie ohne Klang und Schwung mit kleinlichen Finessen und wollte schon gänzlich die Literatur aufgeben – als ich Ende 1846 auf die Bitte meines Freundes, Belinski (1811 – 1848, russischer Literaturkritiker und Publizist) für sein neugegründetes Journal- die erste Skizze der Memoiren eines Jägers schrieb. Sie gefiel – wurde von vielen andern gefolgt – und so wurde ich Nouvellist und Romanschreiber. Von 1847 bis 1850 blieb ich im Auslande – dachte 1848 mich ganz nach Frankreich überzusiedeln, ging aber nach Russland zurück – und wurde im Jahre 1852 mit einem beinahe zweijährigen Exil vom Kaiser Nikolaus bestraft. Der Vorwand dazu war ein Artikel über Gogol, der eben gestorben war: man wollte nämlich die jungen Schriftsteller einschüchtern. Seitdem schreib ich Novellen – grössere und kleinere- lebe abwechselnd in Frankreich, Deutschland und Russland.»
In seiner Literatur erhob Turgenjew immer wieder Charakterköpfe aus dem einfachen Bauernvolk zu literarischen Helden. Er wollte kein politischer Schriftsteller sein, eher sah er sich als heimlichen Psychologen. Er versuchte nicht seine Leser zu erziehen, sondern begegnete ihnen weltoffen und neugierig.
Zu ergänzen wäre nur noch, dass sich Turgenjew 1863 endgültig im Ausland niederliess, zunächst in Baden-Baden, dann in Bougival bei Paris und nur noch zu kurzen Besuchen nach Russland fuhr, etwa, um auf seinem Landgut Spasskoje ungestört zu schreiben.
Turgenjew starb am 3. September 1883 und wurde auf seinen Wunsch hin in Sankt Petersburg beerdigt, auf demselben Friedhof wie sein Freund Wissarion Belinski, dem er den Roman «Väter und Söhne» widmete, eines seiner berühmtesten Werke.